Marie Juchacz wurde am 15. März 1879 in Landsberg an der Warthe geboren Bis zu ihrem 14. Lebensjahr besuchte sie die Volksschule und war dann als Dienstmädchen in verschiedenen Haushalten tätig. Anschließend war sie als Arbeiterin in einer Netzfabrik und als Wärterin tätig. Mit dem ersparten Geld konnte sie sich einen Kurs in Nähen und Schneiderei leisten. Nach Abschluss des Kurses arbeitete sie in der Werkstatt des Schneidermeisters Bernhard Juchacz, den sie 1903 heiratete. Sie begann, angeregt durch ihren älteren Bruder, sich für die Politik und für die Landsberger Sozialdemokratie zu interessieren. Da in Landsberg keine politische Betätigung für sie möglich war, zog sie nach der Trennung von ihrem Ehemann zusammen mit ihren zwei Kindern und mit ihrer Schwester Elisabeth 1906 nach Berlin um. Im Osten Berlins lebten die beiden Frauen von dem Geld, das sie mit Nähen in Heimarbeit verdienten. Von Landsberger Sozialdemokraten waren sie von Ida Altmann empfohlen worden. Diese riet ihnen, sich an die sozialdemokratischen Männer in ihrem Wohnbezirk zu wenden. Sie sollten mit deren Hilfe einen Frauenleseabend aufbauen. 1907 zogen sie um nach Schöneberg und auf einen Hinweis der sozialdemokratischen Vertrauensfrau für den Osten Berlins, Margarete Wengels, traten sie dem Frauen- und Mädchenbildungsverein in Schöneberg bei. Aufgrund des Preußischen Vereinsgesetzes, das Frauen die Teilnahme an politischen Vereinen verbot, tarnten die Sozialdemokratinnen ihre politische Organisation durch die Bildungsvereine. Schon bald wurden den Schwestern wegen ihres Engagements die ersten Ämter und Pflichten in der sozialdemokratischen Frauenbewegung übertragen. Sie lernten Versammlungen zu leiten und als Referentinnen über Themen wie „Religion und Sozialismus“ oder „Die Frauenarbeit in der heutigen Gesellschaft“ zu reden. 1908 zogen sie um nach Rixdorf. Als 1908 das völlig veraltete Preußische Vereinsgesetz vom Reichsvereinsgesetz aufgehoben wurde, lösten sich die Frauenvereine auf und die Mehrheit der hier organisierten Frauen traten zur Sozialdemokratischen Partei über. Bei den nächsten Wahlen für den Rixdorfer Parteivorstand wurden Marie Juchacz und Gertrud Scholz, als Vertreterinnen der Frauen gewählt. 1910 war Marie Juchacz die Vertreterin der Frauen im Zentralvorstand des sozialdemokratischen Wahlvereins Teltow-Storkow-Beeskow-Charlottenburg. Sie vermisste den Diskussionszusammenhang unter Frauen, wie er in den Bildungsvereinen stattgefunden hatte und gründete deshalb eine „Arbeitsgemeinschaft für fortgeschrittene und interessierte Frauen.“ Aufgrund von zwei- bis dreiwöchigen Vortragsreisen stieg der Bekanntheitsgrad der Schwestern soweit, dass Marie Juchacz 1913 vom Partei-Bezirk Obere Rheinprovinz in Köln das Angebot bekam, dort als bezahlte Frauensekretärin zu arbeiten. Damit begann ihre politische Karriere. Ihre Schwester übersiedelte mit den drei Kindern noch im gleichen Jahr ebenfalls nach Köln. Es wurde die Nationale Frauengemeinschaft 1914 für Köln gegründet mit dem Ziel, sich gemeinsam den Problemen von Frauen in der Kriegssituation zu widmen. Marie Juchacz kam in den Ernährungsausschuss. Darüber hinaus lernte sie in dieser Zeit einiges über das Armenrecht und die Armenverwaltung. Sie erkannte die Notwendigkeit einer verbesserten Armenpflege durch gelernte Kräfte aus der Arbeiterschaft, die die Notlage der Armen besser verstehen konnten. Auf Marie Juchacz Initiative hin wurde eine Werkstatt eingerichtet, die Bekleidung für die Armee herstellte und Heimarbeiterinnen Arbeit gab. Damit ermöglichte sie Frauen mit Kindern einen eigenständigen Erwerb. Die Werkstatt zahlte höhere Löhne als die Industrie. Nach vier Jahren in Köln übernahm sie 1917 die Stelle der zentralen Frauensekretärin der SPD in Berlin.
Erste Parlamentsrede einer Frau in Deutschland
Im Oktober 1917 wurde sie als einzige Frau in den Parteivorstand der MSPD gewählt. Mit Unterstützung von Elfriede Ryneck baute sie die sozialdemokratische Frauenbewegung nach der Abspaltung neu auf. Ihr politischer Schwerpunkt war die Sozialpolitik. Sie wandte sich der besonderen Notlage und dem besonderen Fürsorgebedürfnis der Mütter zu.Erst am 12. November 1918 war den Frauen in Deutschland überhaupt erst das Wählen und Gewählt werden erlaubt worden. Sie stehen unter der Obhut des Mannes, haben die Kinder zu hüten und den Haushalt zu führen. Sie dürfen weder wählen, noch gewählt werden. Die einzige Partei, die das ändern will, ist die SPD. Als erste Frau darf die Sozialdemokratin in dem Parlament das Wort ergreifen. Im Januar 1919 wurde sie und ihre Schwester Elisabeth Kirschmann-Roehl in die Verfassungsgebende Versammlung der Weimarer Republik gewählt, wo Marie Juchacz im Verfassungsausschuss mitarbeitete. Dort beantragte sie beim Paragraphen 9 den Passus „Männer und Frauen haben die gleichen staatsbürgerlichen Rechte“ und wandte sich vergebens dagegen, dass dieses Gleichheitsgebot durch die Einfügung von „grundsätzlich“ eingeschränkt wurde.
„Meine Herren und Damen …“ Mit diesen Worten hat Marie Juchacz die Aufmerksamkeit der Weimarer Nationalversammlung am 19. Februar 1919. In ihrer ersten Rede vor dem Parlament stellte sie ihre Sichtweise von den besonderen Stärken der Frauen dar, die teilweise bis heute das Bild von der Frau prägt.
Hilfe zur Selbsthilfe ist ihr Leitmotiv
Kurze Zeit später setzte sie ihre Idee um, eine sozialdemokratische Wohlfahrtspflege zu gründen. Sie rief den „Hauptausschuss für Arbeiterwohlfahrt“ beim Parteivorstand der SPD am 13.12.1919 ins Leben und übernahm den Vorsitz in der Arbeiterwohlfahrt. Ein frühes Ziel der Arbeiterwohlfahrt lag in der Verbesserung der staatlichen Fürsorge. 1926 hatte die Arbeiterwohlfahrt fast 2000 Ortsausschüsse. Ab Oktober 1926 erschien zweimal monatlich die Zeitschrift „Arbeiterwohlfahrt“. Im Oktober 1928 baute die Arbeiterwohlfahrt ihren Schwerpunkt in der Schulungsarbeit zur Wohlfahrtspflege aus und eröffnete in Berlin ihre erste und einzige Wohlfahrtsschule. Von 1920 bis 1933 gehörte sie dem Reichstag an. Sie äußerte sich zu frauenpolitisch brisanten Themen wie der Reform des Ehescheidungsgesetzes oder des Paragrafen 218 StGB. Neben ihrer bis 1933 fortgesetzten Arbeit als Frauensekretärin der SPD im Parteivorstand arbeitete sie im Hauptvorstand des Verbandes der Arbeiterjugendvereine Deutschlands mit. Die Arbeiterwohlfahrt rückte im Laufe der 20er Jahre zunehmend ins Zentrum ihrer Aktivitäten.
1930 starb plötzlich ihre Schwester, von der Marie Juchacz sagt, „das ständige kameradschaftliche Zusammensein mit Elisabeth [war] die am stärksten wirkende Kraft in meinem Leben.“ Seit dem Tod der Schwester verstärkte Marie Juchacz ihre Arbeit in der Arbeiterwohlfahrt noch weiter. Privat setzte sie das gemeinsame Leben mit ihrem Schwager, Emil Kirschmann, fort. Die drei Kinder waren bereits selbständig geworden.
1933, mit der Machtübernahme Hitlers, löste sich die Arbeiterwohlfahrt selbst auf, um der Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten zu entgehen. Marie Juchacz emigrierte gemeinsam mit Emil Kirschmann ins Saarland, wo sie in der Arbeiterwohlfahrt des Saarlandes mitarbeitete. Nach der Wiedereingliederung des Saarlands ins Deutsche Reich flohen sie weiter ins Elsass, wo sie im Widerstand und später bei der „Pariser Arbeiterwohlfahrt“ mitarbeitete. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges setzten sie ihre Flucht über Südfrankreich nach Marseille fort. Von dort aus gelangten sie über Martinique in die Vereinigten Staaten. Sie lernte die englische Sprache und baute die „Arbeiterwohlfahrt – Opfer des Nationalsozialismus New York“ auf, in der sie bis 1948 arbeitete. Anfang Februar 1949 kehrte sie nach Deutschland zurück. In ihren letzten Lebensjahren war sie Ehrenvorsitzende in der Arbeiterwohlfahrt und widmete sich der Weitergabe der Traditionen der Arbeiterwohlfahrt im veränderten Deutschland. In dieser Zeit schrieb sie auch an ihrer Autobiografie, bei der sie zeitlich nur bis 1917 kam, und an einem Buch über herausragende Frauen aus der sozialdemokratischen Frauenbewegung mit dem Titel „Sie lebten für eine bessere Welt“. Am 28. Januar 1956 starb Marie Juchacz in Düsseldorf.