Eileen Gray wird unter dem Namen Eileen Kathleen Moray Smith am 9. August 1878 in Enniscorthy, einem kleinen Ort an der Südostküste Irlands, als fünftes Kind geboren. Sie hat nur zu der drei Jahre älteren Schwester Thora engeren Kontakt. Sie ist häufig sich selbst überlassen, spielt viel allein und fühlt sich innerhalb der Familie eher ausgeschlossen. Ihre Eltern trennen sich, als Eileen Gray acht Jahre alt ist. Der Vater lebt in Italien, Eileen Gray wohnt bei der Mutter. Die Beziehung zwischen Eileen Gray und ihrer Mutter ist kühl. Mit ihrem Vater bleibt Eileen Gray weiterhin in Kontakt. Sie reisen gemeinsam oder sie besucht ihn an seinen wechselnden Wohnorten in Italien oder der Schweiz. Aus einer irisch-schottischen Adelsfamilie stammend, erhält sie durch Hauslehrerinnen die für Mädchen übliche Erziehung: etwas Französisch und Deutsch, Malen und Zeichnen, Kunst, Musik und Literatur. Sie ist eine attraktive junge Frau, doch die Versuche ihrer Familie, ihr heiratsfähige Männer vorzustellen, scheitern. Im Jahr 1890 erliegt ihr geliebter Vater einem Schlaganfall in der Schweiz, und ihr ältester Bruder Lonsdale stirbt im Burenkrieg. Kurze Zeit später geht sie nach London und schreibt sich dort an der Slade School of Fine Arts ein. Doch die Slade School scheint Eileen Gray schon bald zu traditionell und bietet ihr zu wenig Inspiration. Stattdessen durchstreift sie die Londoner Kunstgalerien, wo sie fasziniert von den asiatischen Lackarbeiten ist. Zusammen mit ihrer Mutter besucht Eileen Gray die Weltausstellung in Paris. Ihr Interesse an den „dekorativen Künsten“, an den ausgestellten Möbeln, den handwerklichen Inneneinrichtungen wurde geweckt und sie zieht nach Paris.
Erste Jahre in Paris: aufblühen als Frau und Künstlerin
Anfangs wohnt sie mit ihren Freundinnen Kathleen und Jessie zusammen in Paris und besucht die üblichen Zeichenklassen. Sie verliebt sich in Jessie. In Paris leben die beiden Freundinnen ihre Liebe, verstecken sich aber noch. Im Jahr 1905 reist Eileen Gray noch einmal nach London, um ihre kränkelnde Mutter zu pflegen. Als Eileen Gray 1907 nach Frankreich zurückkehrt, hat sie zwei Jahre in der Lackwerkstatt im Londoner Soho gearbeitet und einen Plan: Sie möchte bei dem bekannten japanischen Lackkünstler Seizo Sugawara die japanische Lackkunst erlernen. Seizo Sugawara ist einverstanden und sie richtet in ihrer eigenen großen Wohnung ein gemeinsames Lack-Atelier ein. Dank der regelmäßigen monatlichen Geldzahlungen ihrer Mutter kann sie sich dieses unabhängige Leben leisten. Sie liebt die Lackarbeit, die sehr zeitaufwändig ist. Neben den tradierten Lackfarben beginnt sie mit anderen Farbkomponenten, Rezepturen und Materialien zum Einlegen zu experimentieren und notiert ihre Erfahrungen akribisch in ihren Arbeitsbüchern.
„Sie ist eine der ersten Künstlerinnen, die diese alte östliche Lacktechnik erfolgreich mit westlichem modernem Geschmack verbinden und dadurch eine große Spannung erzeugen.“
Im Jahr 1910 eröffnet sie mit Seizo Sugawara eine eigene Lackwerkstatt. Ihre bisherige Wohnung kauft sie und bewohnt sie bis an ihr Lebensende. Zu ihren ersten Bewunderinnen und Käuferinnen der exklusiven Lackmöbel gehören die Frauen vom Pariser linken Seine-Ufer, dem „Rive gauche“. Sie hat mit dem Reisen begonnen, das sie inspiriert und ihre künstlerischen Werke beeinflusst. 1912 unternimmt Eileen Gray mit ihrer Schwester Thora eine Schiffsreise nach Amerika. Sie studiert und skizziert während der Überfahrt Raumausnutzung und Aufteilung der Schiffskabinen. Bewegung und Geschwindigkeit faszinieren Eileen Gray. Im Frühjahr 1907 macht sie mit 28 Jahren ihren Führerschein, kauft ihr erstes eigenes Auto und begeistert sich neben Autos auch für Flugzeuge. Sie fliegt 1913 sogar in einem Doppeldecker mit und liebt alles Moderne und Mechanische. Mit dem Wandbild „Le Magicien de la Nuit“ (Der Zauberer der Nacht) tritt Eileen Gray zum ersten Mal als Lackkünstlerin in die Öffentlichkeit im Herbst auf. Hier wird Jacques Doucet, ein französischer Modeschöpfer, auf sie aufmerksam und fördert ihre Karriere. Als der Erste Weltkrieg ausbricht, fährt Eileen Gray für sechs Monate einen Ambulanzwagen, möchte damit ihre pro-französische Einstellung zeigen.
„Die Dinge müssen nicht nur gut aussehen, sie müssen sich auch gut anfühlen.“
Mit 41 Jahren, erhält Eileen Gray ihren ersten Großauftrag: Die Modeschöpferin Madame Mathieu Lévy möchte sich von Eileen Gray ihre Wohnung komplett neu einrichten lassen. Eileen Gray hat dabei weitgehend freie Hand. Es ist ihre erste Arbeit als Gestalterin ganzer Räume. Nach fünf Jahren ist die Wohnung fertig und das Ergebnis ein großer Erfolg. Einige ihrer berühmtesten Werke gestaltet sie für diese Wohnung. Diese Werke machen sie endlich als selbstständige Künstlerin bekannt. Im Mai 1922 wagt Eileen Gray den mutigen Schritt und eröffnet in Paris ihre Galerie „Jean Désert“, finanziert durch eine Erbschaft nach dem Tod Ihrer Mutter im Jahr 1919. Hier vertreibt sie bis 1930 ihre exklusiven Möbel und Teppiche. Aber die Verkäufe der Galerie bleiben trotz herausragender Kritiken und überschwänglicher Zeitungsberichte eher mäßig. Eileen Gray beliefert adlige und berühmte Kunden in Europa und Amerika. Zu ihrem Kundenkreis gehört unter anderem Damia, eine französische Chanson-Sängerin. Damia ist nicht nur eine Kundin, sie ist Eileen Grays große Liebe. Sie ist das genaue Gegenteil der zurückhaltenden, scheuen Eileen Gray. Doch diese Liebe geht 1926 zu Ende.
Der Weg zur Architektin
1921 begegnet Eileen Gray dem 1893 in Rumänen geborenen Architekten Jean Badovici. Aus der Arbeitsbeziehung ist eine ganz besondere Liebesbeziehung zu dem 15 Jahre jüngeren Mann geworden. Mittlerweile ist Eileen Gray eine bekannte und erfolgreiche selbstständige Künstlerin. Im Jahr 1924 ist eine Ausgabe der holländischen Zeitschrift „Wendingen“ allein Eileen Gray gewidmet. Nun möchte sie ein Haus planen und bauen, ihr erstes Architekturprojekt. Nach einjähriger Suche findet sie 1926 einen Bauplatz und kauft ihn. Drei Jahre dauert die Bauzeit für das Haus an der Mittelmeerküste, ohne Straßenanschluss und auf schwierigem Baugrund. 1929 ist das Haus fertig und trägt einen ungewöhnlichen Namen: E.1027. Dabei steht E. für Eileen, 10 für den zehnten Buchstaben im Alphabet „J“ (Jean), 2 für den zweiten Buchstaben „B“ (Badovici) und 7 für den siebten Buchstaben „G“ (Gray). Das zweigeschossige E.1027 wirkt wie ein weißes Schiff aus Beton.
Es ist ein faszinierendes Gesamtkunstwerk: Farben, Formen und Materialien – alles ist aufeinander abgestimmt.
Auch Lichteinfall und Lüftung lassen sich je nach Jahres- oder Tageszeit regeln. Die Räume werden durch helle oder dunkle Bodenfliesen voneinander abgegrenzt. Ebenso sind die Wände sorgfältig koloriert, mit Schriftzügen verziert oder bewusst weiß gelassen. Die Inneneinrichtung ist eine Mischung aus festen Einbauten, sowie flexiblen, leicht tragbaren Möbelstücken. Für Eileen Gray ist das ein Ausdruck einer modernen freien Lebensweise. Die Möbelstücke werden von ihr speziell für dieses Haus entworfen. Sie dokumentiert ihr Werk mit Fotografien, belebt dabei die Ansicht ihrer Innenräume mit vielen Details. Zu Jean Badovici, dem E.1027 offiziell gehört, ist die Beziehung kurz nach der Haus-Fertigstellung zu Ende. Sie zieht 1932 aus.Und wendet sich ihrem neuen Bauprojekt zu: „Tempe à Pailla“ („Mit Zeit und Stroh reifen Feigen“), einem Haus für sie allein im Hinterland in Castellar. Es ähnelt wie E.1027 einem Schiff und auch hier sind das Haus und die funktionalen, flexiblen Möbel komplett aufeinander abgestimmt. 1938 kommt Le Corbusier zum ersten Mal in die Villa am Meer, um seinen Freund Jean Badovici zu besuchen. Er ist begeistert von E.1027, schreibt einen anerkennenden Brief an Eileen Gray über das Haus und ist dort jetzt ein häufiger Gast. 1939 beginnt der berühmte Architekt jedoch in mehrmonatiger Arbeit die Wände zu bemalen.
„An Dinge heften sich Erinnerungen, so ist es besser, von vorne anzufangen.“
Während des Zweiten Weltkrieges hält sie sich im französischen Hinterland auf, wohnt später wieder in ihrer Wohnung in der Rue Bonaparte in Paris. Das Haus E.1027 ist für Eileen Gray verloren und Tempe á Pailla ausgeplündert. 1948 kann sie sich noch einmal zu einem Wiederaufbau von Tempe á Pailla durchringen, aber als es nach sieben Jahren schließlich fertig ist, bedeutet es ihr nichts mehr und sie verkauft das Haus. In Paris widmet sich Eileen Gray weiterhin architektonischen Plänen. Jetzt entwirft sie Projekte mit sozialer Ausrichtung: einen Arbeiterclub, eine Kindertagesstätte, ein Kulturzentrum. In den 1950er Jahren beginnt sie mit 75 Jahren ihr letztes Bauprojekt: Lou Pérou. Für dieses Haus entwirft sie keine Möbel mehr, nutzt ihre alten, noch erhaltenen Möbel und schlichte Stücke, die sie vor Ort kauft. Bei der Fertigstellung von Lou Pérou ist Eileen Gray 85 Jahre alt. 1956 stirbt Jean Badovici an Leberkrebs. Seine Erbin lässt das Grundstück versteigern. Sie bekommt keine Gelegenheit mehr, noch einige ihrer Möbel aus dem Haus zu holen. Die Käuferin von E.1027 hält Le Corbusier für den Erbauer des Hauses, diese Zuschreibung wird auch von Architekturzeitschriften übernommen. Le Corbusier widerspricht dem nicht. Eileen Gray selbst wehrt sich auch nicht gegen diese Falschzuordnung.
Wiederentdeckung und späte Würdigung
Die Wiederentdeckung und Rechtfertigung Eileen Grays wird ausgelöst durch einen Artikel des Architekten Joseph Rykwert in der italienischen Architekturzeitschrift 1968. Der Architekt besucht 1971 das Haus und berichtet in seinem Beitrag über die wahre Entstehung von E.1027 und Tempe á Pailla. Das Interesse an Eileen Gray und ihren Werken erwacht. 1972 kommt der Nachlass Jacques Doucets, einem wichtigen Förderer von ihr, zur Versteigerung. Darunter befindet sich auch ihr berühmter Wandschirm „Le Destin“. Er erzielt einen Rekordpreis von 18000 Pfund. So viel wurde bis zu diesem Zeitpunkt noch nie für ein Möbelstück dieser Art bezahlt. Am 8. Januar 1973 wird die erste große Ausstellung über ihr Werk in London eröffnet, die zu einem Riesenerfolg wird.
„Selbstdarstellung und Titel bedeuten ihr nichts.“
Als Krönung ihrer Karriere wurde sie 1972 von der Royal Society of Art in London zum Royal Designer to Industry ernannt. Durch die Ausstellungen wird Zeev Aram, ein Londoner Unternehmer, auf Eileen Gray aufmerksam. Seine Firma Aram Designs Limited beginnt mit der Serienproduktion von Eileen Grays Möbeln, nachdem sie ihm am 12. November 1973 die Rechte übertragen hat. Eileen Gray ist bis zum Lebensende an den aktuellen künstlerischen Entwicklungen interessiert, arbeitet mit modernen Materialien. Eine letzte Anfrage für eine Raumgestaltung kommt kurz vor ihrem Tod vom Modeschöpfer Yves Saint Laurent, der bereits ihren Drachenstuhl besitzt. Eileen Gray fühlt sich geschmeichelt. Ihr legendärer Adjustable Table E 1027 wurde 1978 vom Museum of Modern Art in New York aufgenommen. Ihr Lebenswerk wurde 2013 mit einer großen Einzelausstellung im Centre Pompidou gewürdigt. 2009 wird ihr berühmter Drachenstuhl von 1918/19 für 21,9 Millionen Euro versteigert. Ihr erfolgreichstes Möbelstück Adjustable Table E.1027 wurde einer der meistkopierten Designklassiker des 20. Jahrhunderts. Eileen Gray stirbt am frühen Sonntagmorgen des 31. Oktober 1976 in Paris mit 98 Jahren ganz allein.
„Ein gelungenes Werk ist wahrhaftiger oder auch ehrlicher als der Künstler selbst.“
Sie ist eines der großen Ausnahmetalente des 20. Jahrhunderts. Zwei Jahre vor ihrem Tod vernichtet sie leider einen Großteil ihrer persönlichen Briefe, Fotos und Unterlagen. Eileen Gray ist nicht nur modern für ihre Zeit, sie ist ihr auch immer ein paar Schritte voraus. Sie entwirft Möbel, die funktional und ästhetisch sind, aber ihre Möbel kommen zu ihrer Zeit nicht immer gut an. Heute sind die von ihr entwickelten Möbelstücke Klassiker der Innenarchitektur aus Stahlrohr und Glas. Sie werden immer noch als lizenzierte Designer-Möbel produziert. Das berühmte E.1027 ist „das einzige von einer Frau allein geplante und gebaute Projekt der klassischen Moderne“ und ein faszinierendes Gesamtkunstwerk, das mittlerweile als eines der wichtigsten Privathäuser in der Architektur des 20. Jahrhunderts angesehen wird.